Graham’s Port Masterclass

Jahrhunderte flüssiger Geschichte

Spektakuläre Verkostungen anlässlich des 200-jährigen Bestehens von Graham’s in München, Berlin, Hamburg und Köln: Neben Single Harvest Tawny und Vintage Port aus drei Dekaden begeisterte »Sommelier-Weltmeister« Marc Almert mit seiner unterhaltsamen Expertise für die faszinierende Welt gereifter »fortified wines«.

»Port ist einfach geil!« Marc Almert steht mit kerzengeradem Rücken, akkuratem Scheitel und gutsitzendem Anzug, doch ohne Krawatte, vor seinem aufmerksam lauschendem und nun zustimmend nickendem Publikum. Zum gebürtigen Kölner passt solch‘ profane Aussage eigentlich gar nicht. Doch der Chef Sommelier des Züricher Luxushotels »Baur au Lac« mit dem hauseigenen, von zwei Michelin-Sternen gekrönten Restaurants »Pavillon«, zitiert genüsslich einen begeisterten Ausruf, der bereits an der ersten Station, der »Bar Mural« in München, fiel.

Und an den genialen Facetten von Port, die sich bei Spitzenqualitäten insbesondere mit Jahren der Reife zeigen, zweifelt am Ende der Verkostung von Single Harvest Tawny und Vintage Port aus 30 Jahren ohnehin niemand. Gleichermaßen wie die Raritäten fesselten Almerts kenntnisreich detaillierte, anschaulich lebhaft verpackte Informationen und Anekdoten aus 300 Jahren Portwein- und 200 Jahren Graham’s Geschichte des 1820 gegründeten Spitzenerzeugers, gepaart mit reichlich Praxistipps für Lagerung, Handling und Pairing.

Kaum Zweifel dürften ebenfalls daran bestehen, dass die von Auszeichnungen und Wettbewerbssiegen flankierte Karriere des 30-jährigen im Vergleich zum – für die heutige Zeit geradezu anachronistisch – „langsamen Getränk“ Port bisher wie im Schnelldurchlauf verlief. Vor zwei Jahren errang er als erst zweiter Deutscher den Titel »ASI Best Sommelier of the World 2019«, nachdem ihn sein Weg von seiner Ausbildung im »Excelsior Hotel Ernst« in Köln unter anderem über den Nassauer Hof sowie das Hamburger »Vier Jahreszeiten« in die Schweiz geführt hatte.

Weltmeisterlich unterhaltsam: Geschichte zum Hören, Erleben – und Schmecken

Natürlich spielen beim Thema Port historische Aspekte eine wichtige Rolle. Schließlich ist es die immense Historie, die dem Genuss dieses reichhaltig saftigen, balancierten Elixiers aus Süße, Säure und (trocken)fruchtigen und würzig-kräuterigen Reifenoten stets eine extra Dimension verleiht. Geschichte, so bewegt wie die früheren Floßfahrten mit den Fässern, den Pipes, den einst wilden Douro aus dem Douro-Tal hinunter zu den „Shippers“ nach Vila Nova de Gaia. Hier, gegenüber von Porto, kurz vor der Atlantikmündung, zum Verzollen und Verschiffen, liegt noch heute die Graham’s-Lodge, das beeindruckende Reifelager. Diese unausweichlichen Präliminarien, vom »Treaty of Windsor«, den Handelsbeziehungen (Stichwort Wolle gegen Wein) zwischen England und Portugal, über die Erfindung der Glasflasche (wichtig für die flaschengereiften Vintage Ports), die Salazar-Diktatur bis zu den computergesteuerten Trauben-Treter »Robotic Lagares«, die zeigen, dass sich die Symington Family eingedenk ihrer Tradition nicht vor Neuerungen verschließt, flossen nahtlos ein in den noch spannenderen Praxisteil.

Element Aquardente: Gustatorischer Blick auf Entstehung und Evolution



Nun verwoben sich auch am Gaumen Portwein-Geschichte und Herstellung. Themen, die hervorragend auf der Website school of port detailliert in angenehmen Video-Häppchen – wie auch über das Terroir des UNESCO-Welterbes Douro-Tal, Stilistiken, Lagerung und Einsatz als Speisenbegleiter – aufbereitet sind. 

Die Engländer fügten damals beim Portwein-Vorläufer zum Transport trockenen Rotweinen Hochprozentiges, also Brandy, hinzu. Eine Ahnung dieses früheren Geschmacks – »wie ein fetter, südlicher alkoholischer Rotwein« – lieferte ein mit dem klaren Traubenbrand namens Aguardente versetzter trockener »Altano«-Rotwein der »Symington Family Estates«. Einen Blick auf die aktuelle Stilistik mit einem Restzuckergehalt von circa 100 Gramm pro Liter bot als Vergleich eine Fassprobe des Jahrgangs 2020. Wie aber schmeckt der selten thematisierte und probierte Aguardente aus Traubentrester, der dem gärenden Rotwein bei einem Alkoholgehalt von 8-9 Volumenprozent in den »Lagares« genannten Gärbecken aus Granit, die heute meist durch Edelstahlwannen ersetzt wurden, bei der »Fortifikation« zugefügt wird, pur? Die farblose Flüssigkeit schmeckt neutral, sehr sauber – und vor allem ziemlich stark mit den vorgeschriebenen 77 Volumenprozent Alkoholgehalt. Da die Aguardente-Qualität unerlässlich für Top-Ports ist, setzt Graham’s (Anteil 1:4) auf Aguardente aus Traubentrester in Premiumqualität, die traditionellerweise aus der Gegend um Lissabon stammt.

Große Jahrgänge, große Anlässe: Verkosten mit Gänsehaut

1974 und 1977, 1982 und 1983, 1994 sowie 2003 – was kurz wie ein neuer Fußball-Gassenhauer der Sportfreunde Stiller klingt, sind die gegenübergestellten Jahrgänge aus drei Dekaden Port-Reife anhand der Stilistik-Spitzen bei holzfassgereiften Single Harvest Tawny und flaschengereiften Vintage Port. »Die Synapsen werden durch bedeutende Jahrgänge angesprochen«, ist sich Marc Almert sicher. Schnell wird klar, was diese neurologisch anmutende Aussage bedeutet. Im Glas befindet sich nichts weniger als »Storytelling« – zum Probieren, zum Schwelgen, zum Trinken. Beispielsweise markierte im Jahr 1974 die Nelkenrevolution das Ende der Diktatur und den Beginn der Demokratie in Portugal. Wegen der allgemeinen Unruhe füllte Winemaker Peter Symington trotz eines wunderbaren Jahrgangs keinen Vintage Port, den er aufgrund der hervorragenden Qualität hätte deklarieren können. – Und Graham’s deklariert nur absolute Spitzenjahrgänge als Vintage Ports. Doch die »Colheita«, der Single Harvest Tawny aus diesem Jahrgang, lässt bei dieser historischen Bedeutung und ihren faszinierenden Aromen niemanden kalt. Einen Vintage Port gab es hingegen 1977, der als einer der besten Jahrgänge des 20. Jahrhunderts gilt, und der sich jetzt in seiner ganzen Blüte im Weißweinglas zeigt. Nur rund 3.000 Liter des Single Harvest Tawny der Colheita 1982 wurden zur Hochzeit von HRH Prince Harry und Ms Meghan Markle, beide Anfang der 1980er-Jahre geboren, vom Winemaker und seinem Verkoster-Team zum Abfüllen aus den ständig überprüften Fässern in Flaschen ausgewählt. Und beim klassischen Jahrgang 1994 sollte man nicht an Stefan Effenbergs Stinkefinger bei der US-WM denken, sondern an sowohl hervorragenden Single Harvest Tawny und einen Vintage Port, der als erster unter Mitwirken des aktuellen Winemakers Charles Symington entstand. Hingegen bleibt 2003 als ungemein heißes Jahr mit wenig Ertrag in Erinnerung, das aber bereits sein Potenzial im typisch üppigen Graham’s Stil für ein langes Leben erkennen lässt. Bei dem Single Harvest Tawny »First Flight« handelt es sich um eine Hommage-Abfüllung an ein Jahrhundert bemanntes Fliegen.

Aufgrund der Bedeutung von Graham’s und der Familie Symington für die Entwicklungen im Douro-Tal und ihre Vorreiterrolle hinsichtlich der Qualität ist vielleicht etwas dran am augenzwinkernden Bonmot des spanischen Winzers Alvaro Palacios: »Die Symingtons sind eine sehr nette Familie. Sie erlauben es dem Douro, durch ihre Ländereien zu fließen.«

Text & Fotos ©Stefan Chmielewski